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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2006

Kay Sokolowsky

Willemsens Welt

Seine Interviews mit Gefangenen aus Guantánamo hätten verdienstvoll sein können - doch Roger Willemsen nimmt sich wichtiger als sein Thema.

Sie wurden entführt, in winzige Verschläge gesperrt, verhöhnt, geschlagen, zermürbt. Weil man ihnen nichts beweisen konnte, wurde die Inhaftierung zum Beweis ihrer Schuld erklärt. Obwohl sie nichts erzählen konnten, was ihre Unschuld widerlegte, wurden sie erst recht für Verbrecher gehalten. Sie waren Gefangene im US-Lager Guantánamo Bay.

Die fünf Männer, die in Roger Willemsens Buch Hier spricht Guantánamo von ihrer Leidenszeit als Terrorverdächtige berichten, haben Grausamkeiten erlebt, die durch nichts gerechtfertigt werden, auch durch die Anschläge vom 11. September 2001 nicht. "Sie haben mich gezwungen, mit gefesselten Händen auf den Knien zu hocken", berichtet z. B. der Koranlehrer Hussein Mustafa über seine Verhöre: "Manchmal habe ich auf einem Bein stehen müssen, manchmal haben sie mich mit den Händen an die Eisentür gebunden. Manchmal bin ich 24 Stunden lang mit gefesselten Händen und Beinen in einen Raum gesperrt worden." Oder der Gewürzhändler Khalid al-Asmar über seine Haftbedingungen: "Die Zelle war zwei mal zwei Meter breit. ... Sie sagten mir, wenn man dort sechs oder sieben Monate lang leben würde, stürbe man an Bewegungsmangel und wegen des Drecks." Oder der Ingenieur Timur Ischmuradow über die Wärter: "Einmal, als ich zu einem Verhör gebracht werden mußte und ich mich weigerte, freiwillig zu gehen, hat man mich in den Hof hinausgetragen, mit dem Rücken auf den Betonboden geworfen und mich an den Fußfesseln etwa fünfzig Meter weit geschleift."

Diese Quälereien wären nicht weniger empörend, hätte man sie Terroristen der Al-Qaida angetan. Doch die fünf Männer, die mit Roger Willemsen geredet haben, sind keine Agenten Bin Ladens. Nach vielen Monaten systematischer Erniedrigung und absoluter Rechtlosigkeit wurden sie aus Mangel an Beweisen entlassen - und für ihre Leiden nicht einmal materiell entschädigt. Man kann diese Interviews kaum lesen, ohne von Zorn auf die US-Regierung überwältigt zu werden und den heftigen Wunsch zu empfinden, die "Anomalie" Guantánamo - wie Tony Blair sie nennt - möge sofort vor dem Weltgericht in Den Haag verhandelt werden. Damit wenigstens die Kerkermeister den Prozeß bekommen, den sie ihren Gefangenen bis heute verweigern.

Willemsens Interviewbuch hätte im Kampf gegen die "Anomalie" verdienstvoll sein können. Aber Hier spricht Guantánamo ist problematisch; und das Problem besteht in seinem Autor. Er zürnt nicht nur, er ist auch noch stolz auf seinen Zorn. Er verzichtet auf jegliche Distanz zu den Aussagen der Zeugen, weil er sich mächtig viel darauf einbildet, sie "wieder in den Besitz ihrer eigenen Erfahrungen" gebracht zu haben. Seine Solidarität mit den fünf interviewten Männern schlägt gelegentlich um in blanken Kitsch: Er habe, schreibt Willemsen, in ihnen "eine eigene Festigkeit und Haltung" bemerkt, "hinter der man den Grund vermuten möchte für jene Unzerstörbarkeit (!), die sie in Guantánamo bewiesen", eine "Fokussierung, die in jedem Lebenszusammenhang beeindruckend gewirkt hätte". Aber wir haben es hier mit Opfern zu tun, nicht mit Märtyrern. Das heroische Pathos, mit dem Willemsen sie ummantelt, nützt niemandem außer denen, die eben nicht in Guantánamo einsitzen, doch von Märtyrern nie genug bekommen: Leuten wie Bin Laden oder Al-Sarkawi. Willemsen ist unkritisch bis zur Besinnungslosigkeit, und zwar mit Absicht: "Es konnte ... nur darum gehen, die Gespräche so originalgetreu wie möglich wiederzugeben ... und die übliche journalistische Nachbearbeitung der Gespräche auf das Notwendigste zu reduzieren."

So sind die scheußlichsten Mißhandlungen nicht etwa von den Interviewten selbst erlitten, sondern ihnen bloß durch Hörensagen bekannt geworden. Willemsen hält es nicht für nötig, die Zweifelhaftigkeit solcher Berichte zumindest zu erwägen. Auch die Biographien seiner Zeugen hinterfragt er nicht. Sie alle schildern ihr Leben vor der Verschleppung nach Guantánamo wie ein verlorenes Paradies. Doch sie haben in Pakistan gelebt oder im Afghanistan der Taliban, mithin in Staaten, die Menschen ohne den rechten Glaubenseifer eher wie Vorhöfe der Hölle erscheinen. Sie alle bekennen sich als Anhänger der Scharia; einer von ihnen, Timur Ischmuradow, reiste gar aus Tadschikistan den Taliban entgegen, um sich von ihnen unterweisen zu lassen. Daß diese Männer in ihrer "Fokussierung" schon seit langem vorgeprägt sind, ignoriert der selber befangene Autor kurzerhand.

Eifer und Eitelkeit kommen Willemsen vollends in die Quere, wenn er die säkulare Bedeutung seines Buchs beschwört. "Kein einziges ausführliches Interview mit einem der entlassenen Häftlinge" sei bislang in Deutschland erschienen, behauptet er, und: "Über Guantánamo ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlinge zu sagen haben." Wenn das stimmte, wäre es in der Tat ein "Skandalon" (Willemsen), aber natürlich stimmt es nicht. Er unterstellt den hiesigen Medien generelle Kritiklosigkeit gegenüber dem Unrecht, das der "Krieg gegen den Terror" entfesselt hat, und gelegentlich sogar Zustimmung: "(Sollte) die Presse frei sein, dann hätte sie von dieser Freiheit ... wohl mehr Gebrauch machen müssen - und zwar nicht nur zum Nachweis der eigenen Unabhängigkeit." Tatsächlich ist neben den Folterbildern aus dem Gefängnis Abu Ghureib kein anderer schmutziger Aspekt des amerikanischen Anti-Terror-Feldzugs derart ausführlich in der deutschen Presse behandelt worden wie Guantánamo. Doch wenn Willemsen schon nicht das erste Buch über das Lager veröffentlicht hat - David Rose und James Pastouna kamen ihm da um Jahre zuvor -, so will er wenigstens das tapferste geschrieben haben.

Willemsen tut so, als sei er der einzige, der es noch wage, die Stimme der Opposition in einer Welt voller Mitläufer und Pressesoldaten zu erheben. Er ist allerdings nur der einzige Talkshow-Gastgeber, der so was tut. Und der einzige, der die Empörung über Guantánamo als Pflichtübung gerade für Deutsche verstanden wissen will. In einem "Taz"-Interview belehrt er am 2. März sein Publikum, "Vergangenheitsbewältigung" sei "doch nur dann verbindlich, wenn sie aus der Glocke des Historischen heraustritt und die Gegenwart mit einbezieht". Warum aber hat er dann nicht lieber mit Menschen geredet, die in deutschen Abschiebeknästen einsaßen? - Das fulminante, vor allem freundliche Medienecho, das sein neues Buch ausgelöst hat, zeigt übrigens, daß es mit dem Wagnis, Guantánamo zu verdammen, nicht so weit her ist, wie Willemsen sich einbildet.

Man darf beim Schreiben über Guantánamo polemisieren, man darf sich auch enragieren. Aber dabei als Rufer in der Wüste posieren: Das darf man nicht; und das kann einer nur, wenn er sich wichtiger nimmt als sein Thema. Genau dies ist, seit er berühmt wurde, Roger Willemsens größtes Defizit. So hat er seinem Buch, das wichtig und verdienstvoll sein könnte, am Ende selbst am meisten geschadet.

Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo. Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2006, 240 Seiten, 12,90 Euro

Kay Sokolowsky hat vor kurzem das Buch Michael Moore. Filmemacher Volksheld Staatsfeind (Konkret Literatur Verlag) veröffentlicht

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Literatur Konkret Nr. 36